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Wegweiser für mehr Selbstvertrauen

Vom Boden aus betrachtet war die Idee wirklich gut. Jetzt, in drei Metern Höhe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Um attraktive Bilder für das Interview zu bekommen, hatte ich vorgeschlagen, für die Aufnahmen auf die Kletterspinne im Kurpark zu steigen. Im Nachhinein eine wackelige Wahl. Meine Gesprächspartnerinnen hatten sofort zugesagt. Kein Wunder: Beide sind hohe, unsichere Sitzpositionen in ihrer Freizeit gewohnt – Jana Wetzel reitet seit Jahren und Cara Becker unterrichtet Einradfahren. Doch was tut man nicht alles, um unseren nächsten WortWechsel lesenswert zu machen?!

Frau Becker, Sie und Frau Wetzel sind beide angestellt bei IN VIA Unna e. V. – wer ist dieser Verein und welchen Hintergrund hat er?
Die Wurzeln von IN VIA reichen sehr weit zurück: Katholische Frauen aus Adel und Bürgertum ergriffen Ende des letzten Jahrhunderts in sozialer Verantwortung Partei für Mädchen und junge Frauen der unterprivilegierten Schichten. Besonders die Situation alleinreisender, arbeitsuchender Mädchen war für sie nicht nur eine persönliche, sondern eine gesellschaftlich bedingte Notlage. Deshalb suchten sie nach Wegen und Organisationsformen der individuellen Hilfe und Unterstützung, aber auch nach Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Mit Hilfe der dazu bereiten katholischen Vereine, Ordensgemeinschaften und Pfarreien in Deutschland, Europa und auch in Übersee entstand ein „weltumspannendes“ Netz von Hilfs- und Schutzstellen. Ab 1895 gründeten sich dafür regionale und nationale Vereine, die sich bereits 1897 zu einem internationalen Verband zusammenschlossen. Damit hatten sie zur Zeit der Jahrhundertwende schon weitgehend die Grundlagen entwickelt, auf denen die heutige Mädchensozialarbeit aufbaut. Beispielhaft sind zu nennen: Beratungsstellen, Wohnheime, Wanderungs- und Berufshilfen, die sich zu den heutigen Migrationshilfen und Jugendberufshilfen entwickelten, und der Themenbereich „Beheimatung in der Fremde“ als Vorform heutiger Integrationsarbeit.

Und welche Aufgabenbereiche haben Sie in Unna, Frau Wetzel?
Wie zur Zeit der Jahrhundertwende bieten wir Beratung, Begleitung und Bildung vorwiegend für Mädchen und Frauen auf ihrem Lebensweg. Wir unterstützen sie bei ihrer Identitätsfindung und vielen anderen Problemlagen. Im Fokus stehen bei uns Frauen und Mädchen, die vor oder in der Ausbildung stehen, Arbeit suchen oder arbeitsbegleitende Hilfe benötigen. Häufig haben unsere Ratsuchenden eine ausländische Herkunft und sind sozial benachteiligt. Die Problemlagen sind sehr vielschichtig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durch verschiedene Faktoren in ihrer Entscheidungsfindung und Entwicklung beeinträchtigt sind. Die Angebote von IN VIA wollen insbesondere Frauen dabei unterstützen, ihre Stärken zu entfalten, ihre Interessen zu vertreten und ihren eigenen Weg zu finden.

Natürlich beziehen wir bei unserer Arbeit auch ihre Familien mit ein. Aktuell reicht unsere Palette daher von Weiterbildungsangeboten wie zum Beispiel Sprach- oder Intergrationskursen, über Schulsozialarbeit bis hin zu Beratungs- und Vermittlungsangeboten. Diese breite Aufstellung von Angeboten ist wichtig, um den ratsuchenden Personen passgenaue Angebote bieten zu können.

Wie läuft das konkret in Unna Königsborn, Frau Becker?
In Königsborn sind Anfang 2017 gleich zwei Projekte von IN VIA gestartet: Das „Quali-Café Eins Plus“ und das Projekt „Integrationscoach“, das sich an Familien mit Migrationshintergrund wendet. Beide Projekte werden aus Mitteln des europäischen Sozialfonds gefördert und sollen die Menschen im Quartier stärken. Das „Quali-Café Eins Plus“ wendet sich besonders an alleinerziehende Frauen, an Frauen, die sich mit anderen austauschen möchten und Unterstützung brauchen. Wir schicken niemanden weg!

In unserer Beratungszeit können die Frauen im persönlichen Gespräch all ihre Sorgen loswerden. Wir unterstützen sie und helfen ihnen in Lebenskrisen weiter. In dieser Zeit können auch neue Wege für die Zukunft erarbeitet werden. Viele Frauen kommen auch zu uns, um sich zu entspannen, um mal „rauszukommen“ aus ihrem Alltag. Mit speziellen Angeboten helfen wir den Frauen, mehr Selbstbewusstsein aufzubauen und etwas nur für sich selbst tun.

Toll ist auch, dass wir eine Kinderbetreuung während unserer Angebotszeit anbieten. So können die Mütter sich ganz auf sich konzentrieren und für kurze Zeit aus ihrem Alltag entfliehen.

Frau Wetzel, was sind das für Angebote und wo finden diese statt?
Ziel unserer Angebote ist es auch, uns bei den Frauen im Quartier bekannt zu machen, um Hemmschwellen abzubauen. Gleichzeitig sollen Frauen und Mädchen, die z. B. bei unserem ZUMBA-Tanzen mitmachen, selbst- und körperbewusster werden. ZUMBA ist für alle Menschen geeignet, die Stress abbauen möchten. Dabei steht jedoch der gemeinsame Spaß im Vordergrund.

Ein weiteres Angebot ist autogenes Training. Alleinerziehende Frauen sind in unserer heutigen Gesellschaft nicht selten Zeitdruck, Stress und permanenter Hektik ausgesetzt. Immer häufiger ist dies die Ursache für psychische Erkrankungen und physische Krankheiten wie Schwindel, Burnout oder Depression. Wir möchten den Frauen mit dieser Entspannungsmethode, die auf Autosuggestion basiert, ein Mittel an die Hand geben, ihr Leben bewusst zu gestalten, regelmäßig eine Auszeit zu nehmen und richtig zu entspannen. Beide Angebote finden im Gemeindezentrum „Brücke“ statt.

Ähnliche Ziele verfolgen wir bei unseren „Wellnesstagen“, an denen wir gemeinsam mit den Frauen zum Beispiel Beauty-Produkte selbst herstellen. Es geht immer um die bewusste Definition der weiblichen Rolle, das eigenständige Gestalten des eigenen Lebens. Hier stärken wir die Frauen und bauen Selbstvertrauen auf.

Zusätzlich möchten wir perspektivische Arbeit leisten und den Frauen langfristig zeigen, dass Beruf und Kindererziehung sich nicht gegenseitig ausschließen. Dabei entwickeln wir mit den Frauen gemeinsam berufliche Perspektiven, zum Beispiel mit Referentinnen aus verschiedenen Berufen oder durch Bewerbungstrainings. Somit können wir individuell beraten, welche Lebenskonzepte für die Zukunft erarbeitet werden können.

Und das Projekt Integrationscoach, wer ist hier die Zielgruppe, Frau Becker?
In dem Projekt geht es im Wesentlichen um Familien mit Migrationshintergrund. Frau Wetzel und ich arbeiten hierbei im Team zusammen, um unsere Klienten bestmögliche Unterstützung anbieten zu können. Die Prozessbegleitung ist dabei unsere Hauptaufgabe. Das kann die Antragstellung für einen Kindergartenplatz sein, die Begleitung zu Behördengängen, wie zum Beispiel zum Jobcenter oder zur Ausländerbehörde. Auch die Begleitung zu Arztbesuchen, um dort zwischen Arzt und Patient zu vermitteln, kommt häufig vor. Besonders viele der seit 2015 zugewanderten Migranten haben aber auch einfach nur Fragen zum Alltag in Deutschland. „Warum bekomme ich eine Jahresabrechnung meines Stromanbieters?“ oder „Was ist eine Nebenkostenabrechnung?“ sind dabei typische Fragen. Manche Familien kommen nur einmal zu unserer Sprechstunde, um sich zu einem bestimmten Thema beraten zu lassen oder einen Antrag auszufüllen. Andere begleiten wir schon seit Beginn unseres Projektes in diesem Jahr und diese suchen immer wieder unsere Hilfe bei verschiedenen alltäglichen Situationen.

Wo finden die Beratungen statt?
Um Menschen zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ohne großen Aufwand Hilfe zu holen, müssen wir vor Ort präsent sein. Das ist besonders wichtig für unsere Arbeit.

In beiden Projekten haben wir häufig eine Lotsenfunktion, sind erste Anlaufstelle, von der aus die Klienten in verschiedene Bereiche gelotst werden. Die Beratung im Projekt „Integrationscoach“ bieten wir an unterschiedlichen Tagen und Zeiten an drei unterschiedlichen Standorten an: In der blauen Box am Quartiersbüro, im Kath. Kindergarten Herz-Jesu am Salzweg und im Gemeindezentrum „Brücke“ an der Berliner Allee.

Frau Becker, Frau Wetzel, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Liberto Balaguer.